1.3 Psychische Belastungen weiter auf hohem Niveau

Die Zunahme psychischer Belastungen bei der Arbeit war Thema in allen Jahrbüchern und ihren Datenanhängen. In der Ausgabe 2017 haben wir festgehalten: Psychische Belastungen bei der Arbeit haben sich auf hohem Niveau stabilisiert. Sie betreffen – in unterschiedlichem Maß – alle Berufsgruppen. Das hat der »Stressreport Deutschland 2012« belegt, der die Ergebnisse der BIBB-BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2011/2012 zusammenfasst. 2017 haben wir die Befunde des Stressreports ausführlich beschrieben. Vergleichbare Umfassende Erhebungen hat es seither nicht gegeben bzw. sind noch nicht veröffentlicht, wohl aber eine beträchtliche Anzahl weiterer Befragungen und Datensammlungen, auf die hier eingegangen wird. Darunter Betriebsrätebefragungen vor allem des WSI, die Reports des DGB-Index Gute Arbeit sowie verschiedene Jahresberichte von Krankenkassen. Sie alle zeigen auf unterschiedliche Weise, wie psychische Belastungen am Arbeitsplatz weiterhin ein zentrales Problem der Arbeitsbedingungen und einer guten Arbeitsgestaltung sind.

Die aktuelle Betriebs- und Personalrätebefragung des WSI (2016) gibt deutliche Hinweise darauf, dass unter den Vorzeichen der Digitalisierung die Arbeitsintensität in den Betrieben und Verwaltungen weiter zunimmt (Abb. 20). Drängendste Handlungsfelder sind nach Einschätzung der Interessenvertretungen die hohe Arbeitsintensität und die zu geringe Personalbemessung. Die Befunde zeigen, dass sich die Arbeitsbedingungen in den letzten fünf Jahren vor allem in Richtung steigender Arbeitsintensität verändert haben – so sehen es 78% der Befragten. Die Arbeitszufriedenheit ist dagegen – nach Ansicht jedes zweiten Betriebsrats (56 %) – gesunken. Die Arbeitsintensivierung betrifft vor allem den Dienstleistungsbereich (Finanz- und Versicherungsdienstleistungen 87%, Erziehung/Gesundheit/Schule 84%, Handel 80%). Bereits in einer früheren Befragung (2008) hatten die Betriebsräte eingeschätzt, dass in 84% der Betriebe die Beschäftigten unter hohem Leistungsdruck arbeiteten. Davon seien im Schnitt 43% der Belegschaft betroffen. Auslöser seien eine zu enge Personaldecke (84%), die hohe Eigenverantwortlichkeit der Beschäftigten (79%) und die Abhängigkeit von Kundenvorgaben (75%) (siehe Jahrbuch 2010, Seite 437).

Folglich sehen die Interessenvertretungen den größten betrieblichen Handlungsbedarf darin, die Personalbemessung dem tatsächlichen Bedarf anzupassen und die Arbeitsintensität zu begrenzen (Abb. 21).

Auch eine Beschäftigtenbefragung des Bundesarbeitsministeriums aus dem Jahr 2016 ergab, dass sich rund zwei Drittel der Beschäftigten durch die neuen Informations-und Kommunikationstechnologien gestresst fühlen, eine Zunahme der Arbeitsintensität verspüren und die Informationsflut als Belastung empfinden (Abb. 22 und 23). Das Problem Informationsflut wuchs mit dem Grad der Qualifikation. Das Belastungsempfinden durch Arbeitsintensivierung war in allen Ausbildungslevels durchgängig hoch.

Diese ausgewählten Befunde zeigen: Die im Stressreport 2012 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin belegte Zunahme psychischer Belastungen ist ein dauerhafter Trend, der bis heute anhält. Zuletzt hatten wir im Datenanhang des Jahrbuches 2017 die Ergebnisse des Stressreports zusammengefasst. Der Report wertet die Daten der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2011/12 aus und vergleicht sie mit früheren Befunden (Abb. 24).

Vor allem die Arbeitsmerkmale ‚verschiedenartige Arbeiten gleichzeitig betreuen’, ‚starker Termin- und Leistungsdruck’, ‚ständig wiederkehrende Arbeitsvorgänge’, ‚Störungen und Unterbrechungen’ sowie ‚sehr schnell arbeiten müssen’ sind demnach weit verbreitet. Bei zwei der am meisten genannten Anforderungen – ‚starker Termin- und Leistungsdruck’ und ‚sehr schnell arbeiten müssen’ – wurde ein Anstieg in der subjektiv empfundenen Belastung verzeichnet.

Der häufige Zwang, mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigen zu müssen und unter starkem Termin- und Leistungsdruck zu arbeiten, ist hoch und wird von den Beschäftigten überwiegend als belastend wahrgenommen. Im Vergleich zur gut zehn Jahre davorliegenden Erwerbstätigenbefragung (1998/1999) haben die meisten Belastungsfaktoren zugenommen.

Inzwischen liegen etliche Untersuchungen vor, die die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitsbedingungen genauer untersuchen. So stellt etwa der Gesundheitsreport 2017 des Dachverbands der Betriebskrankenkassen (BKK) das Thema Arbeit 4.0 in den Mittelpunkt. Dazu wurden mehr als 3.000 repräsentativ ausgewählte Beschäftigte befragt (Abb. 25).

Mehr als 40% von ihnen geben an, dass dadurch die Arbeitsvorgänge schneller geworden sind oder dass es üblich geworden ist, mehrere Arbeitsaufgaben gleichzeitig zu erledigen. Das hat Auswirkungen: Deutlich mehr als ein Viertel der Befragten (28%) verspürt Belastungen hinsichtlich der psychischen Gesundheit, in einigen Berufen auch rund ein Drittel.

Insbesondere fällt auf: Das Arbeitstempo nimmt zu, es müssen meist mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigt werden. Gut 41% berichten von Multitasking. Fast genauso viele meinen, dass sie ihre Arbeit immer schneller bewältigen müssen. Die in der gleichen Zeit zu bewältigende Arbeitsmenge wird größer. Gut ein Drittel berichtet von mehr Kontrolle und Überwachung. Fast ebenso viele fühlen sich durch E-Mails und Anrufe von ihrer eigentlichen Arbeit abgelenkt und werden häufig unterbrochen. Etwa jede/r Fünfte fühlt sich durch digitalisierte Arbeit ausgebrannt und überlastet.

Während bei diesen Befunden beide Geschlechter etwa gleichauf liegen, fällt bei einigen Bewertungen eine Differenz zwischen Männern und Frauen auf. Während fast 29% der Männer meinten, sie könnten durch Digitalisierung Arbeit und Familie/Freizeit besser in Einklang bringen, teilen nur gut 23% der Frauen diese Meinung. Noch deutlicher sind die Unterschiede beim Thema Arbeitszeitsouveränität. Während knapp 26% der Männer meinten, sie könnten sich ihre Arbeitszeit nun besser selbst aussuchen, sahen das nur 18,7% der Frauen so.

Auch die 2016 vorgelegte Stressstudie der Techniker Krankenklasse (TK) belegt die Zunahme von Stress in den vergangenen Jahren. Stressfaktor Nummer eins ist dabei die Arbeit. Für die Untersuchung wurden insgesamt 29 Einzelbefragungen unter rund 9.000 Beschäftigten ausgewertet. Der Report umfasst Betriebe des produzierenden Gewerbes, des Dienstleistungsbereichs und auch Bereiche des öffentlichen Dienstes. Es ist bereits die dritte von der TK vorgelegte Untersuchung dieser Art; die früheren wurden 2008 und 2013 veröffentlicht. Während sich 2013 57% der Befragten häufig oder manchmal gestresst fühlten, waren es 2016 61%:

Der häufigste Grund für Stress im Beruf ist Arbeitsverdichtung – das Missverhältnis zwischen Arbeitsmenge und der dafür zur Verfügung stehenden Zeit. Rund zwei Drittel der Berufstätigen empfinden die Arbeitsmenge als zu groß und daher als belastend. Nur geringfügig weniger werden Termindruck/Hetze und häufige Unterbrechungen und Störungen genannt, schließlich auch Informationsüberflutung. Aber auch Belastungen durch Lärm, schlechte klimatische Verhältnisse am Arbeitsplatz u. ä. sorgen bei vielen für Stress. Oftmals kommen auch mehrere solcher Belastungen zusammen. Und nicht zu vergessen: Fast ein Viertel der Befragten fühlt sich auch durch eintönige und langweilige Arbeit belastet. Nicht nur Überforderung, auch Unterforderung kann ein Stressfaktor sein (Abb. 26).

Am höchsten ist der Stresslevel bei denen, die viel Zeit auf der Arbeit verbringen – bei den Vollzeitbeschäftigten, vor allem bei denen mit langen Arbeitszeiten. Auffallend ist der hohe Anteil derjenigen, die mangelnde Anerkennung als Stressfaktor nennen. In den gleichen Zusammenhang gehören Hinweise auf »ungerechte« Bezahlung, mangelnden Handlungsspielraum und Probleme mit den Vorgesetzten. Hier zeigt sich ein geradezu »klassisches« Problem: Das Missverhältnis zwischen ständig zunehmenden, hohen Anforderungen und fehlender materieller und ideeller Anerkennung. Vier von zehn Beschäftigten (39%) klagen, Familie und Freunde kämen wegen beruflicher Anforderungen zu kurz. Bei den Männern sind es sogar 45%. Vollzeitjobs verschärfen das Problem. »Das ist auch deshalb kritisch zu sehen«, so der Report, »da Familie und Freunde eine besonders wertvolle Ressource im Kampf gegen den Stress sind«. Am höchsten ist der Anteil der Unzufriedenen bei den Jüngeren zwischen 18 und 39 Jahren (42%), also in der Rushhour des Lebens.

Vier von zehn Beschäftigten fühlen sich nach der Arbeit abgeschlagen und verbraucht (43%). In der größten Beschäftigtengruppe der 40- bis 59-Jährigen ist es sogar jede/r Zweite (48%), bei den über 60-Jährigen ebenso. Am meisten betrifft das die mittleren Einkommensschichten. Knappe jede/r Fünfte (18%) fühlt sich von der Arbeit überfordert und hat das Gefühl, bald nicht mehr mithalten zu können. Am meisten trifft das auf die Älteren zu. Bei den 50- bis 69-Jährigen empfindet das fast ein Drittel der Befragten so (30%). Die Digitalisierung der Arbeitswelt wird dieses Problem noch verschärfen. Hier zeigt sich ein hoher Bedarf an alters- und alter(n)sgerechter Arbeitsgestaltung.

Für die Studie wurden die Teilnehmenden auch gefragt, unter welchen Beschwerden sie häufiger oder ständig leiden. Ganz oben auf der Liste stehen Muskelverspannungen oder Rückenschmerzen. Mehr als jede/r Zweite (54%) ist davon betroffen. Das deckt sich mit den Krankenstandsdaten der TK. Aus dem neuen TK-Gesundheitsreport 2017 geht z. B. hervor, dass die so genannten Muskel-Skelett-Erkrankungen auch 2016 weiterhin die größte Erkrankungsgruppe sind. Ein Fünftel aller Fehlzeiten (19,1%) entfällt darauf.

Auf Platz zwei der genannten Beschwerden folgt bereits die Erschöpfung. »Alarmierende 31% der Befragten fühlen sich oft gestresst oder ausgebrannt«, heißt es im Report. Fast ebenso viele leiden unter Schlafstörungen. Jeweils ein Viertel der Befragten berichtet von Kopfschmerzen, Migräne, von Gereiztheit. 14% leiden unter Tinnitus, Depressionen belasten 13%. Frauen sind von Rücken- und Kopfschmerzen häufiger betroffen als Männer.

Der Report stellt keinen einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang her zwischen dem hohen Stresslevel am Arbeitsplatz und den festgestellten Gesundheitsstörungen. Der lässt sich bei einer solchen Befragung auch nicht eindeutig beweisen. Das heißt aber nicht, dass beides nichts miteinander zu tun hätte. »Bei fast allen der genannten Beschwerden lässt sich eine klare Korrelation mit Stress herstellen«, heißt es dazu im Report. So leiden etwa zwei Drittel der Befragten mit hohem Stresspegel unter Rückenproblemen, fest ebenso viele fühlen sich ausgebrannt, fast die Hälfte klagt über Schlafstörungen. Bei denjenigen, die nicht von Stress berichten, treten diese Beschwerden viel seltener auf.

Umfassende Daten zu psychischen Belastungen am Arbeitsplatz bieten die 2007 begonnenen jährlichen Beschäftigtenbefragungen des DGB-Index Gute Arbeit. Sie sind in den Datenanhängen der verschiedenen Jahrbücher regelmäßig berücksichtigt worden. Auch sie belegen den Trend der permanenten Zunahme von Arbeitsdruck und Arbeitsintensivierung. Der DGB-Index Report 2009 hat gezeigt: Je schlechter die Arbeitsqualität, desto stärker die Arbeitshetze. Nur jeder zweite Beschäftigte geht davon aus, unter den derzeitigen Arbeitsbedingungen seine Tätigkeit bis zum Rentenalter ausüben zu können. Von den Beschäftigten, die in sehr hohem Maße unter Zeitdruck arbeiten, erwarten das jedoch nur 19%.

Ähnlich wie die schon aufgeführten Daten der Krankenkassenreports haben die DGB-Index-Befunde des Jahres 2013 gezeigt, dass die Arbeitsintensität in den letzten Jahren zugenommen hat. 37% der Beschäftigten geben an, im Vergleich zum Vorjahr in hohem Maß mehr Arbeit in der gleichen Zeit schaffen zu müssen. Ein weiteres Viertel verzeichnet immerhin noch eine geringe Zunahme. Gar keine Zunahme nennen nur 39% der Beschäftigten (Abb. 27).

Nach den Befragungsergebnissen des Jahres 2015 gibt mehr als die Hälfte der Befragten (52%) an, sich bei der Arbeit sehr häufig oder oft gehetzt zu fühlen. Noch höher (55%) ist der Anteil derjenigen, die häufige Unterbrechungen bei der Arbeit beklagen. Zwei Drittel der gehetzt Arbeitenden führen dies auf die vielen gleichzeitig zu bearbeitenden Vorgänge und Projekte zurück (Multitasking). Mehr als sechzig Prozent geben an, dass eine zu knappe Personalbemessung ursächlich für das gehetzte Arbeiten ist. An dritter Stelle liegen die ungeplanten Zusatzaufgaben (Abb. 28).

Die Index-Befunde 2015 machen auch klar, warum die Arbeitsintensität zunimmt. Die meistgenannten Belastungsfaktoren, die sie verstärken, sind: Multitasking (also der Druck, mehrere Arbeiten gleichzeitig erledigen zu müssen), zu knappe Personalbemessung, ungeplante Zusatzaufgaben und zu eng bemessene Termine. Auch eine zu hohe Erwartungshaltung von KundInnen, KlientInnen und PatientInnen spielt eine wichtige Rolle (Abb. 29).

Die Digitalisierung der Arbeit macht sich im Belastungsspektrum – besonders bei den psychischen Belastungen – inzwischen schon deutlich bemerkbar. Sie geht mit tiefgreifenden Veränderungen in der Arbeitswelt einher. Aus Sicht der Beschäftigten bedeuten der zunehmende Einsatz digitaler Technik und die voranschreitende Vernetzung keineswegs automatisch eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Im Gegenteil: Von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die in hohem oder sehr hohem Maß digitalisiert arbeiten, geben 46% an, ihre Arbeitsbelastung sei dadurch größer geworden. 45% sehen (bisher) keine Veränderung und lediglich 9% fühlen sich durch die Digitalisierung entlastet (Abb. 30).

Für die DGB-Index-Erhebung 2016 wurden insgesamt knapp 10.000 Beschäftigte befragt. Für die Auswertung zu den Folgen der Digitalisierung für die Arbeitsbelastung wurden die Angaben der Untergruppe von 6.314 Befragten herangezogen, die nach eigenen Angaben in hohem oder sehr hohem Maße von der Digitalisierung betroffen sind.