1.4 Arbeitszeit und Gesundheit

Der Zusammenhang zwischen Arbeitszeit und Gesundheit ist in den vergangenen Jahrbüchern mehrfach Thema – auch des Datenanhangs – gewesen, zuletzt und ausführlich in der Ausgabe 2017 (Seite 335–355), hier auf der Basis der umfangreichen Daten der Arbeitszeitbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Die ihr zugrundeliegenden Daten wurden 2015 erhoben, der Arbeitszeitreport der BAuA erschien Ende 2016, parallel zum Redaktionsschluss des Jahrbuches 2017. Die BAuA-Daten wurden zudem im Bericht »Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit« 2015 der Bundesregierung (SUGA, 2016 erschienen) zusammengefasst.

Die Gestaltung der Arbeitszeiten ist für den Arbeits- und Gesundheitsschutz und die Arbeitsqualität von zentraler Bedeutung. Ohne humane Arbeitszeiten kann es keine gute, menschengerechte Arbeitsgestaltung geben. Was die Gestaltung der Arbeitszeiten in Deutschland heute betrifft, gibt es eine massive Zerklüftung der Arbeitszeitlandschaft, eine »neue Vielfalt«, wie Steffen Lehndorff in seinem Beitrag im Jahrbruch 2017 festgestellt hat (Seite 81–91).

»Der Basistrend der Arbeitszeitentwicklung kann mit den Worten Entstandardisierung, Ausdifferenzierung und Flexibilisierung zusammengefasst werden. Der Anteil der Beschäftigten, deren Arbeitszeiten von Tarifverträgen beeinflusst werden, geht zurück — nicht nur, aber auch wegen des Rückgangs der Tarifbindung. Zunehmende Frauenerwerbstätigkeit und wachsender Dienstleistungssektor lassen klassische (männlich dominierte) Industriebereiche mit eher standardisierten Arbeitszeiten schrumpfen, während Sektoren mit hohen Anforderungen an zeitliche Verfügbarkeit und Flexibilität wachsen (Lehndorff, Seite 82f.). Die Digitalisierung der Arbeitswelt verstärkt diese Trends noch. Es liegt auf der Hand, dass von dieser Zerklüftung der Arbeitszeiten vielfältige Gesundheitsgefährdungen für die Beschäftigten ausgehen.

Die Ergebnisse der BAuA-Arbeitszeitbefragung werden hier nur noch in knapper Form zum Ausgangspunkt genommen, um weitere seither zugänglich gewordene Daten zur Arbeitszeitlage zu erläutern. Die BAuA-Daten unterscheiden zwischen den (tarif-)vertraglich vereinbarten und den tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden. Wie lange wirklich gearbeitet wird, entscheidet maßgeblich darüber, wie hoch die Arbeitsbelastung ist. Vollzeitarbeit (über 35 Wochenstunden) ist eine Männerdomäne. 93% der Männer arbeiten so. Dagegen haben 42% der erwerbstätigen Frauen eine Teilzeitstelle (10 bis 34 Wochenstunden).

Bei den Vollzeitbeschäftigten sind (über-)lange Arbeitszeiten Standard, Tarifverträge hin oder her. Sie arbeiten pro Woche durchschnittlich 43,5 Stunden, fünf Stunden mehr als vertraglich vereinbart (38,6 Stunden). Die meisten Männer (54%) kommen auf 40 bis 47 Wochenstunden, weitere 24% sogar auf 48 Stunden und mehr, also über die gesetzliche Grenze von 48 Wochenstunden hinaus. Bei den Frauen trifft das nur auf jede zehnte zu (Abb. 31).

Mit längeren Arbeitszeiten steigt auch der Anteil derjenigen, die von gesundheitlichen Beschwerden berichten – vor allem Rückenschmerzen, Erschöpfung, Niedergeschlagenheit und Schlafstörungen. Bei Arbeitszeiten zwischen 40 und 47 Stunden betrifft das rund die Hälfte der Beschäftigten. Auch die Zufriedenheit mit der Work-Life-Balance – ebenfalls ein wichtiges Thema der Befragung – nimmt mit der Länge der Wochenarbeitszeit ab. Zudem lassen Beschäftigte mit langen Arbeitszeiten häufiger Arbeitspausen ausfallen – weil sie befürchten, ihre Arbeit sonst nicht zu schaffen.

Die naheliegende Frage nach den Arbeitszeitwünschen zeigt außerdem: Mehr als die Hälfte der Vollzeitbeschäftigten (55%) würde gerne weniger arbeiten, wenn das finanziell machbar wäre. Bei einem Teil der (meist weiblichen) Teilzeitbeschäftigten (35%) überwiegt dagegen der Wunsch nach längerer Arbeitszeit (Abb. 32).

Die BAuA-Daten belegen, dass die Flexibilisierung der Arbeitszeiten in vollem Gange ist. Sie ist seither unter dem Label der Digitalisierung noch weiter forciert worden. Ob dies für Gesundheit und Zufriedenheit der Beschäftigten positiv oder negativ zu Buche schlägt, hängt vor allem davon ab, wer bestimmt: das Unternehmen oder (auch) die Beschäftigten. Hier haben sowohl die BAuA-Daten als auch die Befunde des DGB-Index Gute Arbeit 2014 gezeigt, dass die Beschäftigten zu wenig über die Gestaltung ihrer Arbeitszeit selbst bestimmen können. Ein hoher Anteil der Beschäftigten hat nach dem DGB-Index überhaupt keinen Einfluss auf die eigene Arbeitszeitgestaltung – weder auf Arbeitsbeginn und -ende (41%) noch auf Pausenzeiten (30%). Nach wie vor drei Viertel der Beschäftigten können ihre Arbeit nicht kurzfristig von zu Hause erledigen.

Erkenntnisse zu Arbeitszeitrealitäten und Arbeitszeitwünschen liefert inzwischen auch die große Beschäftigtenbefragung der IG Metall. Nachdem sich schon 2013 über eine halbe Million Beschäftigte an einer ersten Befragung beteiligt hatten, verzeichnete die IG Metall 2017 für ihre Aktion rund 680.000 Rückmeldungen. Die Befragung hatte das Schwerpunktthema Arbeitszeit und stand im Zusammenhang mit der Arbeitszeitkampagne der IG Metall. Zwar sind die Befragungsergebnisse nicht repräsentativ im engen wissenschaftlichen Sinne, doch liefern sie eine umfassende Datenbasis zur Arbeitszeitsituation in der Industrie und geben Auskunft über wichtige Trends. Ähnlich wie die Arbeitszeitbefragung der BAuA ermöglicht auch die IG Metall-Befragung ein klares Bild über die Arbeitszeitrealitäten in Deutschland (Abb. 33). Aus dem sehr umfangreichen Datenmaterial können hier nur einige ausgewählte Themen herausgefiltert werden. Darüber hinaus liegen ausführliche Analyseergebnisse vor.

Die Daten offenbaren: Während sich die gewünschten und die vertraglichen Arbeitszeiten weitgehend decken, klafft eine breite Lücke zwischen den vertraglich vereinbarten und den tatsächlichen Arbeitszeiten. Diesen Befund hat auch schon die BAuA-Arbeitszeitbefragung geliefert. Weit über die Hälfte der Beschäftigten (57,3%) arbeitet länger als vertraglich vereinbart. Fast zwei von drei Beschäftigten würden ihre tatsächliche Arbeitszeit gerne verkürzen.

Zudem ist der Wunsch nach einer reduzierten Vollzeit stark ausgeprägt. Insgesamt 16,6% der Befragten wollen das, aber nur 5,3% haben sie. 20,2% derjenigen, die derzeit eine 35-Stunden-Woche haben, würden ihre vertragliche Arbeitszeit gerne unter 35 Stunden verkürzen. Lediglich 4,8% der Beschäftigten wollen eine längere Arbeitszeit. Darunter viele Teilzeitbeschäftigte. Betrachtet man nur die Teilzeitbeschäftigten, so würden 28,3% von ihnen mit vertraglichen Arbeitszeiten unter 20 Stunden gerne länger arbeiten. Ihre Wunscharbeitszeit liegt zwischen 21 und 34 Stunden.

Unzufriedenheit mit der vertraglichen Arbeitszeit äußern am meisten de Beschäftigten in nicht-tarifgebundene Betrieben. Hier wünschen sich fast zwei Drittel (60,8%) eine kürzere vertragliche Arbeitszeit. Die IG Metall selbst folgert aus ihren Daten: Die »35« sei die Wunscharbeitszeit. Nahezu 50% wollten die 35-Stundenwoche, auch wenn ihre vertragliche Wochenarbeitszeit darüber liegt.

Im Vergleich zu Befragung von 2013 stellte sich außerdem heraus: Die tatsächlichen Wochenarbeitszeiten sind noch einmal länger geworden. 2013 arbeiteten 49,4% der Beschäftigten zwischen 36 und 40 und 23,9% über 40 Stunden. 2017 arbeiteten schon 53,1% zwischen 36 und 40 Stunden und 24,4% über 40 Stunden.

Betrachtet man die Daten mit Blick auf die Unterschiede zwischen Frauen und Männern, so zeigt sich generell: Zwar haben die meisten Männer (49%) und auch Frauen (41%) eine vertragliche Arbeitszeit von 35 Wochenstunden. Die Unterschiede werden erst deutlich, wenn die Arbeitszeiten unter 35 Stunden betrachtet werden. Nur 3% der Männer haben eine vertragliche Arbeitszeit unter 35 Stunden, dagegen 23% der Frauen (Abb. 34).

Abb. 34: Vertraglich vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit von Männern und Frauen mit und ohne Kinder unter 14 Jahren, in %

 

Quelle: IG Metall-Beschäftigtenbefragung 2017

 

Bis 20 Std.

21–34 Std.

35 Std.

36–39 Std.

40 Std.

41–48 Std.

über 48 Std.

Frauen insgesamt

7

15,6

41

18,8

16,7

0,7

0,2

Frauen ohne Kinder

3,6

11,2

45,2

20,6

18,5

0,8

0,1

Frauen mit Kindern

19,5

32,3

25,2

21,1

10,2

0,6

0,2

Männer insgesamt

0,5

2,5

49,3

21,2

24,6

1,6

0,3

Männer ohne Kinder

0,6

2,5

49,3

21,2

24,6

1,6

0,3

Männer mit Kindern

0,3

2,5

47

20,7

1,7

0,3

 

Diese Daten zeigen: Über die Hälfte der Mütter (51,7%) hat eine Arbeitszeit unter 35 Stunden. Bei Frauen ohne Kinder sind es knapp 15%. Bei Männern mit und ohne Kinder sind solche Unterschiede wesentlich geringer und gehen eher in die andere Richtung: Männer mit Kindern arbeiten eher länger als Männer ohne Kinder. So arbeiten knapp 30% der Männer mit Kindern 40 Stunden und mehr, dagegen nur 25% der Männer ohne Kinder.

Mütter reduzieren also ihre vertragliche Arbeitszeit, Väter nicht. Nachdem Frauen bei der Geburt ihrer Kinder ihre Arbeitszeit reduziert haben, kommen sie, wenn ihre Kinder älter als 14 Jahre sind, oft nicht in ihre alten Arbeitszeiten zurück – die klassische Teilzeitfalle. Auch hier lohnt noch ein Blick auf die vereinbarten und tatsächlichen Arbeitszeiten (Abb. 35).

Abb. 35: Vertraglich vereinbarte und tatsächliche wöchentliche Arbeitszeit nach Geschlecht, in %

 

Quelle: IG Metall-Beschäftigtenbefragung 2017

 

Bis 20 Std.

21–34 Std.

35 Std.

36–39 Std.

40 Std.

41–48 Std.

über 48 Std.

Frauen vertraglich

6,9

15,6

41,1

18,8

16,6

0,7

0,2

Frauen tatsächlich

4,6

16,0

14,2

32,3

16,3

15,3

1,1

Männer vertraglich

0,5

2,5

49,4

21,2

24,5

1,6

0,3

Männer tatsächlich

0,5

2,4

15,9

32,8

21,3

24,4

2,5

Die meisten Beschäftigten haben eine vertragliche Wochenarbeitszeit von 35 Stunden: Frauen zu 41%, Männer zu 49%. Tatsächlich arbeiten aber nur 16% der Männer und 14% der Frauen 35 Stunden, alle anderen dagegen mehr. Ein Drittel der Männer und der Frauen arbeitet zwischen 36 und 39 Stunden. Bei über einem Viertel der beschäftigten Männer sind es sogar 41 Stunden und mehr. Die Aushöhlung der 35-Stunden-Woche ist offensichtlich.

Schließlich ermöglichen die Daten es auch noch, die vertraglichen und tatsächlichen mit den gewünschten Arbeitszeiten nach Geschlecht zu vergleichen. Generell liegt die gewünschte Arbeitszeit bei Frauen wie bei Männern unter den vertraglichen und erst recht unter den tatsächlichen Arbeitszeiten (Abb. 36).

Abb. 36: Vertragliche und gewünschte Arbeitszeit nach Geschlecht,
in %

 

Quelle: IG Metall-Beschäftigtenbefragung 2017

 

Bis 20 Std.

21–34 Std.

35 Std.

36–39 Std.

40 Std.

41–48 Std.

über 48 Std.

Frauen vertraglich

6,9

15,6

41.1

18,8

16,6

0,7

0,2

Frauen gewünscht

7,6

26,2

43,2

14,4

7,7

0,7

0,1

Männer vertraglich

0,5

2,5

49,4

21,2

24,5

1,6

0,3

Männer gewünscht

2,5

14,2

48,7

16,8

15,1

2,3

0,4

Die Daten bestätigen, was auch aus anderen Studien schon bekannt ist: Viele Frauen würden ihre Arbeitszeit gerne verlängern, nämlich von eine kurzen auf eine etwas längere Teilzeit, meist im Bereich 32 bis 34 Stunden. Was weiter vorne schon ohne Geschlechterdifferenzierung ersichtlich war, wird hier noch einmal deutlich: Viele Beschäftigte wünschen sich eine Arbeitszeit, die 35 Wochenstunden oder weniger beträgt. Bei Frauen ist der Anteil derjenigen, die sich eine unter 35 Stunden liegende Arbeitszeit wünschen, deutlich höher.

Was die Verbreitung von Arbeitszeiten betrifft, die außerhalb der regulären Arbeitszeit von Montag bis Freitag tagsüber liegen, so ist der Anteil der Schicht arbeitenden relativ hoch: 35% der Männer und 21% der Frauen arbeiten in Schicht. Bei Wochenendarbeit ist dieser Anteil geringer, aber auch noch beträchtlich: 21% der Männer und 11% der Frauen arbeiten regelmäßig am Wochenende.

Der starke Trend, die vereinbarte Wochenarbeitszeit zu überschreiten und länger zu arbeiten, äußert sich auch in der hohen Zahl von Überstunden (Abb. 37). Nach Daten des IAB wurden 2017 1,7 Milliarden Überstunden geleistet (789 Millionen bezahlt und 925 Millionen unbezahlt).

Von einem starken Rückgang der Zahl der Überstunden, wie von Arbeitgeberseite manchmal behauptet wird, kann also keine Rede sein. Mehrarbeit über die vertragliche Arbeitszeit hinaus drückt sich auch nicht nur in Überstunden aus. Sie wird heute auch über Arbeitszeitkonten reguliert, und es stehen auch andere Instrumente zur Verfügung wie Leiharbeit, Werkverträge oder Fremdvergabe von Aufträgen. Die hohe Zahl der nicht vergüteten Überstunden bedeutet, dass den Beschäftigten pro Jahr mehr als 20 Milliarden Euro Lohn und Gehalt entgangen sind.

Lange, oft auch unregelmäßige oder schlecht planbare Arbeitszeiten beeinträchtigen auch die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Das ist das zentrale Thema der Erhebung des DGB-Index Gute Arbeit 2017. Ein Schlüsselfaktor ist auch hier die Arbeitszeit. Die weite Verbreitung von atypischen Arbeitszeitlagen an Wochenenden, abends und nachts sowie überlange Arbeitszeiten gehen zu Lasten familiärer und privater Angelegenheiten. Die Beschäftigten brauchen also mehr Zeitsouveränität, um ihre Arbeitszeiten an unterschiedliche Lebensphasen anpassen zu können. Dazu gehören auch der Rechtsanspruch auf befristete Teilzeit, das Rückkehrrecht in Vollzeitbeschäftigung und der Anspruch auf Aufstockung der Arbeitszeit. Sonst stecken viele Frauen in der Teilzeitfalle fest.

Abbildung 38 zeigt: Nicht nur lange Arbeitszeiten behindern die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Auch die ständige Erreichbarkeit für Arbeitgeberbelange kommt einem Übergriff gleich, durch den die Balance beeinträchtigt wird: 44% der Beschäftigten, die der Erreichbarkeitsanforderung ausgesetzt sind, haben Vereinbarkeitsschwierigkeiten. Einen Hinweis auf Problembereiter, die außerhalb der Arbeitswelt liegen, so etwa die ungleiche Verteilung der Hausarbeit, birgt der Vergleich der Angaben der Vollzeit Beschäftigten nach Geschlecht: Vereinbarkeitsschwierigkeiten haben 26% der Männer, aber 35% der Frauen.